Helen Stöckl in Nicaragua Bericht 1

7. Okt. 2005

Post aus
von Helen Stöckl
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Ein Monat in Masaya

 

Es ist Samstagabend und mein Zug fährt um 20 Uhr vom Hauptbahnhof- Hamburg. Mein letzter Tag in Hamburg vergeht viel zu schnell. Ein Jahr werde ich meine Familie und Freunde nicht sehen können. Jeder will mir noch mal tschüss sagen, viel Glück mit auf den Weg geben und mir alles Gute wünschen. Und dann ist es so weit: Ich stehe am Gleis und steige in den Zug Richtung Düsseldorf Flughafen. Ich kann es noch gar nicht richtig fassen, dass ich nun nach Nicaragua fahre, um dort ein vollkommen

anderes Leben zu beginnen.


In Düsseldorf angekommen treffe ich auch schon meine mitreisenden Freiwillige. Zusammen beginnen wir unser Abenteuer und lassen Deutschland hinter uns, als wir im Flieger nach Madrid sitzen. Von Madrid aus geht es dann weiter nach Miami. Dort werden wir erst einmal gründlich durchgecheckt, unsere Fingerabdrücke werden genommen und ein Passbild gemacht. Nachdem die Amis unsere ganze Identität protokolliert haben durften wir dann endlich in den nächsten Flieger steigen, Richtung Managua. Die Aufregung unter uns steigt…Was wird uns erwarten? Nur noch einige Stunden und wir haben unser neues zu Hause erreicht.
Vollkommen fertig, nach ca. 30 Stunden reisen, steigen wir aus dem Flieger. Wir sind in der Hauptstadt Nicas angekommen, doch was ist mit dem Gepäck passiert? Oh nein, das fängt ja gut an… Die Hälfte unserer Koffer und Rucksäcke fehlt! Naja, macht nichts. Es ist 22 Uhr Ortszeit, es bleibt uns nichts anderes übrig als die Koffer Koffer sein zu lassen und erst mal zu schauen ob die zwei Zivis da sind, die uns abholen sollen um dann mit uns nach Masaya zu fahren, wo wir den ersten Monat alle zusammen verbringen werden. Doch es erwartet uns niemand…Die Passagiere verlassen den kleinen Flughafen und es kehrt eine merkwürdige Stille ein. Wir warten. Vielleicht haben sich die beiden schon so sehr den nicaraguanischen Zeitverhältnissen angepasst und kommen einfach wie üblich zu spät. Nach einer Stunde werden wir allerdings unruhig. Wir telefonieren hin und her und erreichen schließlich jemanden. "Was, ihr seid schon da? Wir dachten ihr kommt erst morgen…" Es bleibt uns also nichts anderes übrig als noch mal zwei Stunden zu warten. Aber da sind sie um uns abzuholen, mit einem kleinen Bus, in den sich 12 Mann plus Fahrer und Gepäck reinquetschen… Wir fahren über verlassene, holprige Straßen, biegen in eine kleine Seitengasse und stehen schließlich vor dem Tor zu unserer vorübergehenden Bleibe. Ja, wir sind tatsächlich da!!!


Doch was für ein Schock! Und hier soll ich nun einen Monat bleiben? Das hält doch kein normaler Mensch aus denk ich mir…
Wir wohnen auf einem großen "terreno" (Gelände), auf dem drei Häuser, oder besser gesagt Hütten stehen. Es regnet in Strömen und die Dunkelheit übermannt mich. Mücken schwirren nur so um einen herum, man hört Geraschel und Gezirpe. Zuerst einmal sucht sich jeder einen Schlafplatz. Zu dritt

zwängen wir uns in eines der kahlen und kleinen Zimmer des Haupthauses. Zum Glück steht dort schon ein Feldbett und eine große Matratze für uns bereit, sodass wir es uns mehr oder weniger gemütlich machen können. Die anderen verteilen sich in die anderen Hütten. Der Regen prasselt und die Luftfeuchtigkeit ist so hoch, dass der Schlafsack schon nach wenigen Minuten ganz klamm ist. Doch so müde wie ich von der Reise bin, schlaf ich sofort ein!


Am nächsten Morgen werden wir erstmal der Familie vorgestellt, denen das Gelände gehört und die für uns den Monat über sorgt. Bei Tageslicht sieht alles auch gleich viel schöner aus. Es ist überall grün, Kokusnusspalmen wachsen direkt neben mir, die Sonne scheint und die Mama Ángela ist am Kochen. Doch dann zeigen uns die zwei "Vor-Zivis" Tom und Steffan die Dusche und Toilette…NEIN, das ist keine Dusche! Das ist ein Eimer Wasser, eine Kelle und ein mit Plastik abgeschirmtes Stück Land. Doch es kommt noch besser! Die Toilette ist lediglich ein ausgehobenes Loch mit einem Aufsatz auf den man sich setzten kann (wenn man sich gerne Parasiten einfängt), ansonsten hockt man sich lieber darüber. Das trainiert!

Aber ich muss ehrlich sagen, dass ich mich schon sehr gut von diesem ersten Schock erholt habe und mich an die einfachen Lebensumstände gewöhne. Es hat sogar was idyllisches an sich, wenn ich morgens in der Dusche stehe und auf die Wiese schaue, während alles noch ruhig ist und schläft.


Es sind einfach andere Bedingungen hier gegeben, mit denen man sich abfinden muss. Kein fließend Wasser, viele Häuser haben nur drei Wände, die Küche befindet sich auf der Terrasse und ist lediglich eine Feuerstelle, gewaschen wird per Hand in den dafür vorgesehenen Lavanderos und an das Essen darf man auch keine zu großen Ansprüche stellen.


Das Nationalgericht heißt "gallo pinto", Reis mit schwarzen Bohnen, das man hier morgens, mittags und abends isst. Die Mama lässt sich allerdings immer mal wieder was einfallen unseren ausgeprägten Geschmackssinn zu überzeugen. Gallo pinto mit plátanos (frittierte Bananen) oder Eiern, manchmal gibt es ein Stückchen Fleisch dazu oder einfach nur Salat. Auf der anderen Seite hat man allerdings eine riesige Auswahl an Früchten. Bananen, Ananas, Orangen, Zitronen findet man in Massen, genauso wie die für uns ausgefallen Obstsorten Pitahalla, Lichi oder Sternfrucht. Und das bekomme ich alles für einen Spottpreis. Für einen Euro kann ich mir z.B. 100 Bananen, 6 Ananas oder 60 Orangen kaufen. Doch man darf sich natürlich nicht täuschen lassen, denn für die Mehrzahl der Nicaraguaner ist ein Euro schon ¼ ihres Tageslohns.


Doch trotz der krassen und unübersehbaren Armut hier wurde ich bis jetzt recht freundlich aufgenommen. So gehe ich z.B. als hellhäutiges, blondes Mädl durch die Straßen und werde offen und nett angelächelt. Die Kinder schreien mir oft "chele" hinterher, was von "leche" (Milch) kommt und umgangssprachlich für die Beschreibung eines Weißen benutzt wird. Allerdings muss ich sagen, dass ich auch "Gringo" nicht selten höre, wenn ich eine Gruppe Nicaraguaner streife. "Gringo" heißt soviel wie "Ami", wird aber eher abwertend gesagt, da Nicaragua jahrelang von den USA regiert wurde und abhängig war. Daran muss man sich wohl einfach gewöhnen, auch, wenn es mir bis jetzt noch nicht so leicht fällt erstmal als "dummer, reicher Ami" eingeschätzt zu werden. Man sticht hier einfach heraus und ist anders. Aber trotz der neckischen Nachrufe sind die Leute freundlich und oft auch sehr interessiert, wenn ich erzähle, dass ich aus Deutschland komme. Ich freue mich schon, bis ich noch ein bisschen mehr Spanisch drauf habe um mich auch einfach mal mit den Leuten zu unterhalten. Und der Anfand dazu ist schon gemacht. Jeden Tag gehe ich nun zum Sprachkurs. 4 Stunden spanische Grammatik pauken und Vokabeln lernen. Kaum zu Hause angekommen geht es weiter mit Hausaufgaben. Meine Tage sind total ausgefüllt und es wird fast schon zu viel, wenn ich mal was im Haushalt machen muss. Denn hier ist selbst so was wie Wäschewaschen oder Geschirrspülen ein riesiger Aufwand und benötigt total viel Zeit. Nichts mit Wasch- oder Spülmaschine…Die Wäsche wird per Hand in den dafür vorgesehenen "Lavanderos" gewaschen, oder man nimmt seine Dreckwäsche einfach mit zu der wunderbaren Lagune, die nur einige Kilometer entfernt ist um dort seinen Badetag mit einem Waschtag zu verbinden.


Einfach ein Stückchen Seife und ne Bürste einpacken und schon kann's losgehen. Das Wasser ist so klar, dass es ein unbeschreibliches Gefühl ist abzutauchen. Ich habe mich richtig frei gefühlt, als ich in dieser riesigen Lagune geschwommen bin, die von Regenwäldern umgeben ist! Es ist ein toller Ort um einfach mal Energie zu tanken.


Kein Kindergekreische, laute Autos oder Frauen die dir ihre Enchiladas oder "Frescos" (ein aus Früchten und Wasser hergestelltes Erfrischungsgetränk, das in Plastiktüten verkauft und getrunken wird) andrehen wollen. Gerade am Wochenende ist es schön mal aus dem ganzen Trubel raus zu kommen, die Natur zu genießen und Kraft für die nächste Woche zu tanken. Denn Kraft, Energie und Muße sind wirklich nötig um den Alltag und das Leben hier zu bewältigen. Nicht nur, dass man immer mit dem Wetter kämpfen muss (entweder regnet es in Strömen, die Straßen überschwemmen und eine Weltuntergangsstimmung macht sich breit, oder es ist so heiß, dass man nur von Schatten zu Schatten hüpft), sondern auch ein normaler Einkauf ist schon anstrengend.


Es ist Montag und ich gehe mit dem Sohn der Familie einige Besorgungen machen. Wir brauchen eigentlich nicht viel. Bananen, Eier, Reis und ein Fahrradschloss. Ja, auch ein Fahrradschloss gibt es auf dem Markt. Von Obst über Fleisch, Taschen, Friseure, Fahrräder bis zu Elektrogeräten gibt es einfach alles. Doch erstmal brauchen wir nur die Bananen. Also lassen wir uns von der Menschenmasse Richtung Obsthändler treiben. Wir durchqueren viele Gassen, mal überdacht, mal im Freien, streifen unzählige Leute und bahnen uns unseren Weg zwischen den Ständen hindurch. Mich überströmen fremdartige Gerüche und verschiedenste Gesichter blicken mich an. Auf der einen Seite steht eine Frau die mir ihre lebenden, an den Beinen zusammengebundenen und über Kopf hängenden Hühner andrehen will, auf der anderen Seite sitzt ein ca. 12 Jähriges Kind hinter drei Eimern aus denen es Fresco ausschenkt. Wir kommen langsam in die Gegend der Obst- und Gemüsehändler. Dort stehen sie…Die einen haben ihre Melonen und Orangen noch auf dem LKW geladen, die anderen häufen Berge von Ananas an. Wohin ich gucke sehe ich Früchte! Und nun geht es ans Handeln. Wer bietet weniger, wo bekomme ich die besten Bananen. Endlich für einen der ca. 30 Bananenhändler entschieden eilen wir auch schon wieder in die andere Richtung. "Eier" steht als nächstes auf der Liste.


Wir bahnen uns unseren Weg zurück, wieder an der Hühnerfrau und dem arbeitenden Kind vorbei, sowie an mehreren Schuhläden und Friseuren bis wir endlich an der Ecke angekommen sind wo sich die Eierverkäufer tummeln. Und wieder wird gehandelt. Das Spiel wiederholt sich dann noch zweimal, bis wir auch noch den Reis und das Fahrradschloss beisammen haben. Wir suchen den Ausgang. Hier und da wird noch einmal mir den Bekannten geplaudert und ein Witz zum Nachbarn hingeschrien. Nach ungefähr zwei Stunden tauchen wir aus dem Getummel wieder auf und machen uns endlich auf den Heimweg.


Es macht mir super viel Spaß über den Markt zu schlendern und die ganzen Eindrücke mitzunehmen, doch wenn man sich vornimmt nur mal schnell Bananen zu kaufen hat man sich gewaltig geschnitten!!!

Ab Oktober bin ich in León, meiner zukünftigen Stadt, und werde mir mein Haus suchen, mich einleben und mit der Projektarbeit beginnen. Ich bin gespannt, wie ich das alles auf die Reihe bekomme und ich freue mich schon sehr auf ein eigenes Zimmer!

Helen Stöckl in Nicaragua